Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes
Wiederaufnahme
Robert Carsens gefeierte Inszenierung des Jedermann mit Philipp Hochmair in der Titelrolle kehrt für eine zweite Saison auf den Domplatz zurück.
Jedermann ist ein Stück, in das die Arbeit von zahlreichen Künstlern früherer Zeiten eingeflossen ist, die zum Teil namenlos blieben. Seit mehr als 100 Jahren wird es unter freiem Himmel vor der imposanten Fassade des Salzburger Doms im frei gereimten Text von Hugo von Hofmannsthal aufgeführt, der sich dabei auf ein englisches morality play aus dem frühen 16. Jahrhundert stützte, das seinerseits auf einem noch älteren Stück aus den Niederlanden basiert.
Robert Carsens effektvolle Inszenierung verortet Hofmannsthals „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ unmissverständlich in der Welt von heute — in einer Welt, deren Materialismus in harschem Kontrast zur spirituellen Botschaft des Stücks steht. In Carsens Interpretation erkennt Jedermann die komplexe Funktionsweise des Finanzsystems, und es gelingt ihm auch, dessen dynamische Kräfte zu seinem persönlichen Vorteil zu nutzen. Es bereitet ihm offensichtlich sinnliches Vergnügen, sich das Beste von allem, was man mit Geld kaufen kann, zu gönnen. Er scheint wirklich jemand zu sein, der zu leben versteht. Doch gerade, als es am schönsten ist, wird Jedermann an seine Sterblichkeit erinnert — und plötzlich ist er gar nicht mehr so außergewöhnlich, wie es zunächst den Anschein hatte. Verlassen von allen, die er mit seinem Reichtum und seiner Großzügigkeit für sich eingenommen hat, sieht er sich mit einer Aufgabe konfrontiert, die ihm niemand abnehmen kann. Widerwillig beginnt Jedermann, sich und sein Leben zu hinterfragen. Diesen Prozess empfindet er als verstörend, beängstigend und schonungslos. Für uns, die wir ihm dabei zusehen, folgt daraus ganz unmissverständlich: Was ihm widerfährt, kann — und wird — auch uns passieren.
Wir Menschen sind unserem Wesen nach nicht imstande, den eigenen Tod wirklich zu begreifen. So bleibt er zumeist etwas, das anderen widerfährt. Wenn es aber für uns selbst ans Sterben geht — was eines Tages geschehen muss —, dann ist es immer zu früh. Warum ist das so, und woran halten wir so verzweifelt fest, wenn wir uns ans Leben klammern? Es sind unter anderem diese Fragen, die im Jedermann erkundet werden. Das Stück bezieht seine Kraft und Resonanz daraus, dass seine Thematik — wenn auch in kodifizierter Form erzählt — jeden und jede einzelne im Publikum betrifft, jedes Jahr, bei jeder Vorstellung.
Eine der bedeutendsten Entwicklungen, die Hofmannsthal in die Erzählung einbringt, ist Jedermanns Nachdenken darüber, dass vielleicht anderes als Reichtum und sinnliches Vergnügen wichtig sein könnten, und zwar bevor ihm der Tod erscheint. Direkt nach dem Gespräch mit seiner Mutter — und vielleicht durch dieses ausgelöst — öffnet sich etwas in seiner Psyche und bewegt ihn dazu, seine Lebensführung infrage zu stellen. Damit beginnt seine Suche nach dem Wert und dem Sinn des Lebens, in deren Verlauf Jedermann sich immer weiter Fragen nach der Bedeutung des Todes, der Guten Werke, des Glaubens und letztlich Gottes stellt.
Unterstützt und ermutigt von Max Reinhardt, setzte sich Hofmannsthal in seinem Jedermann mit der fundamentalen Frage des Todes auseinander und damit, ob und wie wir uns dafür rüsten können. Dabei kann für Gläubige jedweder Glaubensgemeinschaft die religiöse Vorbereitung im Mittelpunkt stehen, für Hofmannsthal aber spielte meiner Meinung nach auch der Bezug zwischen Kunst und Tod eine große Rolle. Kunst ist das einzige, das bleibt, wie uns die Abfolge der Menschheitskulturen vor Augen führt. Kunst kann uns dabei helfen, mit der Vergänglichkeit unseres Lebens und der Endgültigkeit des Todes umzugehen, sie vielleicht sogar zu bewältigen. Max Reinhardts Idee, den Jedermann im Herzen der Stadt, auf dem Domplatz, aufzuführen, ist erfüllt von Resonanz, aber auch von Freude. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich das Stück zwar mit Inhalten beschäftigt, die uns heilig sind, dass es selbst aber kein Heiligtum ist — und weder Hofmannsthal noch Reinhardt hätten wohl gewünscht, dass man es als solches behandelt. Es feiert das Leben, indem es den Tod annimmt, als wäre es Tauffest und Trauerfeier in einem. Jedermann ist eine Zusammenfassung, eine Metapher und eine Allegorie des Lebens.
Regie: Robert Carsen
Bühne: Robert Carsen, Luis F. Carvalho
Kostüme: Luis F. Carvalho
Licht: Robert Carsen, Giuseppe di Iorio
Choreografie: Rebecca Howell
Dramaturgie: David Tushingham
Ensemble 013
Dominik Dos-Reis, Tod
Philipp Hochmair, Jedermann
Andrea Jonasson, Jedermanns Mutter
Christoph Luser, Jedermanns guter Gesell/Teufel
Susanne Wende, Der Koch
Arthur Klemt, Ein Schuldknecht
Nicole Beutler, Des Schuldknechts Weib
Deleila Piasko, Buhlschaft
Lukas Vogelsang, Dicker Vetter
Daniel Lommatzsch, Dünner Vetter
Kristof Van Boven, Mammon
Juliette Larat, Glaube
Johanna Egger, Leo Kebernik, Johannes Schöneberger, Paul Winkler, Tischgesellschaft
und andere
Dauer: ca. 1 h 50 min, ohne Pause
Termine
Sa 19.7.2025, 21:00 | Wiederaufnahme | Ticket
Mo 21.7.2025, 21:00 | Ticket
Sa 26.7.2025, 21:00 | Ticketund weitere Termine
So 27.7.2025, 21:00 | Ticket
Di 29.7.2025, 21:00 | Ticket
Sa 2.8.2025, 21:00 | Ticket
Di 5.8.2025, 21:00 | Ticket
Mi 6.8.2025, 21:00 | Ticket
So 10.8.2025, 21:00 | Ticket
Di 12.8.2025, 17:00 | Ticket
Mi 13.8.2025, 17:00 | Ticket
Mo 18.8.2025, 17:00 | Ticket
Fr 22.8.2025, 21:00 | Ticket
So 24.8.2025, 17:00 | Ticket
Mi 27.8.2025, 17:00
Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog
Neuinszenierung
Karl Kraus’ monumentales Drama Die letzten Tage der Menschheit ist eine scharfsinnige und bittere Abrechnung mit den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Zwischen 1915 und 1922 verfasst, stellt Kraus in den über 200 Szenen die Abgründe des Krieges in all ihrer grotesken und gleichermaßen unerträglichen Absurdität dar: von der zynischen Verblendung der Politik über die Desinformation durch die Presse bis hin zur dumpfen Gleichgültigkeit der Bevölkerung. Kraus deckt schonungslos auf, wie die Verflechtung von Machtinteressen und Kriegspropaganda, zusammen mit einer Gesellschaft, die bereitwillig den Lügen glaubt, den Wahnsinn des Krieges überhaupt ermöglicht. Im Vorwort betont er: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Kraus schöpft aus dokumentierten Begebenheiten und aufgeschnappten Dialogen, was sein Publikum zu Zeug·innen einer Welt macht, die sich sehenden Auges in den Krieg stürzt. Kraus selbst hat Die letzten Tage der Menschheit zunächst als Lesestück gedacht und es erst 1928 für die Bühne freigegeben. Als „Marstheater“ sei es geschrieben, denn keine irdische Bühne könne dieses Pandämonium je vollständig aufführen, heißt es im Vorwort.
Dušan David Pařízek ist für seine kraftvollen, atmosphärischen Regiearbeiten bekannt und wurde für seine Tätigkeit als Autor, Regisseur und Bühnenbildner vielfach ausgezeichnet. Seine Inszenierung für die diesjährigen Salzburger Festspiele wird die verstörende Aktualität von Kraus’ Fragen freilegen. Was macht Menschen empfänglich für Desinformation, Populismus und Propaganda? Woher rühren die Verblendung und der Glaube an die Unabdingbarkeit von Gewalt? Welche Gesellschaft überlässt das Denken und Handeln lieber anderen? Pařízek setzt sich mit degenerativen Phänomenen und Erscheinungen der Gegenwart auseinander: dem Ende einer zivilisatorischen Epoche, die ihren prägenden Ausdruck im selbstzerstörerischen Streben nach Macht, in der Verherrlichung „gerechter“ Kriege und in der emotionalen wie ethischen Haltlosigkeit findet. Eine bedrückende Welt, in der offenbar wird, dass wir in Anbetracht der heutigen Krisenherde und des in Europa wiedererstarkenden Nationalismus alle Verantwortung tragen, dass Kraus’ Anklage alle betrifft, Mitläufer·innen ebenso wie Machthabende. Eine düstere Vision wie eine unheilvolle Warnung aus der Vergangenheit. Sie stellt die Frage nach der moralischen Verantwortung eines jeden Einzelnen in einer Gegenwart, die akut von Populismus, Desinformation und Kriegstreiber·innen geprägt ist.
Die letzten Tage der Menschheit ist weit mehr als eine Anklage gegen den Krieg: Es ist eine schmerzhafte Analyse der menschlichen Natur. Kraus fordert uns auf, über die Mechanismen von Gewalt, Macht und Propaganda nachzudenken, die auch in unserer Zeit drohen, den Wahnsinn zu entfachen. Ein eindringlicher Blick in den Abgrund, der die Menschheit in all ihrer Zerstörungswut und ihrer Tragik zeigt.
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek
Dramaturgie: Lena Wontorra
Musik: Peter Fasching
Besetzung:
Dörte Lyssewski
Michael Maertens
Elisa Plüss
Marie-Luise Stockinger
und andere
Eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Burgtheater Wien
In deutscher Sprache mit englischen Übertiteln
Termine
Fr 25.7.2025, 19:00 | Premiere | Ticket
So 27.7.2025, 19:00 | Ticket
Di 29.7.2025, 19:00 | Ticketund weitere Termine
Mi 30.7.2025, 19:00 | Ticket
Fr 1.8.2025, 19:00 | Ticket
So 3.8.2025, 19:00 | Ticket
Di 5.8.2025, 19:00 | Ticket
Mi 6.8.2025, 19:00 | Ticket
Bewertungen & Berichte Die letzten Tage der Menschheit
Schauspiel
Le Passé
Leonid Andrejew (1871 - 1919)
Premiere: 28.7.2025
In einer Adaption von Julien Gosselin;
Übersetzung von André Markowicz
Eine Produktion von Si vous pouviez lécher mon coeur
Tournee-Produktion: Odéon-Théâtre de l’Europe
Ein Theaterstück entsteht nie aus einer Idee. Stattdessen ist es das Ergebnis einer perfekten Mischung aus Leben, Theater und Dingen, die wir erreichen wollen, oder solchen, die wir nicht erreichen. Während der Proben zu Players, Mao II, The Names nach Don DeLillo überlegte ich mir, wie es wäre, einen Klassiker wie Die Möwe zu inszenieren und die Produktion nach jener Szene, in der Treplews Stück aufgeführt wird, in Zerstörung und der Auslöschung der Figuren münden zu lassen — entweder durch einen Überfall bewaffneter Terroristen oder das allmähliche Verschwinden der kostümierten Figuren von der Bühne. Zunächst dachte ich, das sei das Resultat meiner Wut auf die Theaterwelt, ihre Traditionen und die vermeintlichen Erwartungen des Publikums an das, was es kennt, also an das Repertoire.
Einige Monate später telefonierte ich mit dem Übersetzer André Markowicz. Ich erzählte ihm, dass ich zum ersten Mal einen alten Text in Betracht ziehen würde, und beschrieb ihm die Geschichte einer sterbenden Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Art von Gorkis Kinder der Sonne . Aber Gorki ist nicht so mein Fall, seine Stücke sind mir zu hart und zu physisch. Ich wollte nicht von Wut erzählen, sondern von einem Abschied. Die Leute sollten nicht durch die Waffen der Revolution getötet werden, sondern im Laufe der Handlung einfach langsam aussterben.
Ich dachte an Houellebecq, bei dem es am Ende von Karte und Gebiet heißt: „Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.“ Ich dachte auch an Regisseure, die klassische Stücke inszenieren. Ich dachte daran, was man zu sagen pflegt: „Die Dramatiker sprechen zu uns.“ — „Shakespeare ist moderner als alle anderen Bühnenautoren.“ Und ich schaute zurück auf meine bisherigen Arbeiten. Die zeitgenössischen Texte, mit denen ich bislang gearbeitet habe, erschienen mir wie verlorene, vergessene Welten, auf die jemand aus der Perspektive der Zukunft blickt, aus einer Zeit, in der unsere Gesellschaften tot sind — und die Welt auch. Heute denke ich, dass wir klassische Texte adaptieren, weil sie eine Distanz zu uns haben — und nicht aufgrund ihrer bleibenden Qualität.
Wir wollen Menschen wiedersehen, die nicht mehr auf der Welt sind, die sie verlassen haben. Wir wollen Sprachen hören, die sich im Laufe der Zeiten verändert haben; wir wollen verstehen, wer wir waren, und die Toten wieder lebendig sehen. Genau das versuchte ich, André Markowicz zu erklären. Ich sagte ihm, ich wolle ein Stück machen, das vom bevorstehenden Aussterben der Menschheit handelt und zugleich vom Verschwinden des klassischen Theaters. Ein bitterer und ehrlicher Abschied von der Menschheit und ihren Konventionen.
Er fragte mich: „Kennen Sie Leonid Andrejew?“ Ich hatte den Namen noch nie gehört. Die Lektüre seiner Werke war ein regelrechter Schock für mich. Zum ersten Mal fühlte ich eine menschliche Nähe zu einem längst verstorbenen Autor. Andrejew ist anders als andere Autoren seiner Zeit. Er schrieb Theaterstücke, Kurzgeschichten, symbolische Arbeiten. In seinem Werk findet man in allen Szenen, Dialogen und Sätzen Wörter, die einen völlig in ihren Bann schlagen — so als könnte man mit wenigen Worten an das eigentliche Herz des Schmerzes und der Schönheit der Welt rühren.
In der für ihn typischen Verbindung von Theater, Text, Bild und Musik beschwört Julien Gosselin in diesem einzigartigen Blick auf die Vergangenheit ein Panorama aus gemalten Leinwänden, Theatersälen und Wohnungen im Kerzenlicht und alten Kostümen. Sie stehen neben Kameras und gläsernen Räumen als Bilder der heutigen Zeit. Der Geist von Tarkowskis Solaris schwebt darüber — so wie sich in Tarkowskis Film Bilder von Bauplänen einer Weltraumrakete mit der Darstellung einer Bauernschar auf einem Bruegel-Gemälde abwechseln, entsteht in Gosselins Stück aus der Energie des eruptiven und fantastischen Textes von Leonid Andrejew eine Gedankenschleife. Diese Gedankenschleife besagt, dass die Zukunft die Vergangenheit ist. In der Kombination von opulentem Dekor des bürgerlichen Salons, winterlichen Gärten, gemalten Landschaften und Bühnenhandlung entwirft Gosselin mit seinen Schauspieler·innen und Musiker·innen eine Hommage an eine untergegangene Kunst und Menschheit.
Besetzung:
Guillaume Bachelé
Joseph Drouet
Denis Eyriey
Carine Goron
Victoria Quesnel
Achille Reggiani
Maxence Vandevelde
Eine Koproduktion von Odéon-Théâtre de l’Europe / Festival d’Automne à Paris, Le Phénix Scène Nationale Valenciennes pôle européen de création, Théâtre National de Strasbourg, Théâtre du Nord, CDN Lille-Tourcoing Hauts-de-France, Les Célestins, Théâtre de Lyon / Théâtre National Populaire, Maison de la culture d’Amiens, L’Empreinte, Scène nationale Brive Tulle, Château Rouge, Scène conventionnée d’Annemasse, Comédie de Genève, Wiesbaden Biennale, La passerelle Scène Nationale de Saint-Brieuc, Scène Nationale d’Albi, Romaeuropa
Nicht empfehlenswert für Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren
In französischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Termine
Mo 28.7.2025, 18:30 | Premiere | Ticket
Mi 30.7.2025, 18:30 | Ticket
Fr 1.8.2025, 18:30 | Ticketund weitere Termine
Musik von Johann Sebastian Bach, Philip Glass und Hildur Guðnadóttir
Produktion: The Blanket
ACTUS
Duett zu Actus tragicus BWV 106 von Johann Sebastian Bach
GERANIUM ’64
Solo von und mit Lucinda Childs, basierend auf Childs’ Solo Geranium (1965)
TIMELINE
Choreografie für Ensemble zu einer Komposition von Hildur Guðnadóttir
DISTANT FIGURE
Choreografie für Ensemble zur Komposition Distant Figure
(Passacaglia for Solo Piano) von Philip Glass
Lucinda Childs zählt zu den bedeutendsten Choreografinnen der Gegenwart. Sie war Mitglied der legendären Judson Dance Theater-Bewegung, die im New York der 1960er-Jahre den Tanz revolutionierte, und prägte mit ihren Arbeiten die Tanzgeschichte seit den 1970er-Jahren wesentlich. Mit Four New Works präsentiert sie gemeinsam mit der Lucinda Childs Dance Company, dem Videokünstler Anri Sala und dem Pianisten Anton Batagov — basierend auf Kompositionen von Philip Glass, Hildur Guðnadóttir und Johann Sebastian Bach — ihre jüngsten Arbeiten sowie ein Solo aus dem Jahr 1965, in dem die Ikone des Tanzes selbst zu erleben ist.
Lucinda, das legendäre Stück Geranium (1965) bezog sich auf ein Footballspiel-Finale und ist nun Grundlage für deine Zusammenarbeit mit Anri Sala.
Ja, es ist das erste Mal, dass ich es wieder aufnehme. Ich beziehe mich auf einen von vier Teilen der Arbeit, in dem ich mich ursprünglich mit einer Kette und einem Schloss ans Ende einer Hängematte angekettet habe und in einem halbkreisförmigen Bogen bewegte, während ich die Aktion eines Läufers in Zeitlupe ausführte — das Zusammenstoßen, Fallen, Ausstrecken. Für den Soundscore habe ich eine Radioübertragung des NFL-Meisterschaftsspiels zwischen den Cleveland Browns und den Baltimore Colts bearbeitet. Man kann diese Radioübertragung auch in dem neuen Stück hören, für das Anri Sala eine kongeniale Bühnenerweiterung geschaffen hat: aus Licht und einer Projektionswand, auf der wiederum diffuse Bilder des Originalspiels erscheinen, wie Erinnerungen. Es gibt auch eine sehr beeindruckende Umsetzung von Erinnerung in deinem wegweisenden Werk Dance (1979), für das Philip Glass die Musik geschrieben hat. Ihr habt eine lange gemeinsame Geschichte — nun präsentiert ihr Distant Figure .
Philip hat Distant Figure ursprünglich mit der Idee komponiert, dass der Pianist Anton Batagov mit meinen Tänzer·innen auf der Bühne ist, aber als eine „distant figure“ im Hintergrund. Das Stück war für die Park Avenue Armory in New York City mit einem Design von James Turrell geplant, aber es kam nie zustande. Also sagte Philip: „Wir machen eine Aufnahme für dich, damit du daran weiterarbeiten kannst, während du auf Tour bist“, und Anton Batagov hat es mit anderen Klavierwerken von Glass aufgenommen. Also hat sich die Choreografie entwickelt, während du dieses wunderbare Stück gehört hast, das mit nur zwei Tönen beginnt und sich zu einer komplexen und berauschenden Bewegung entfaltet?
Ja, das Stück hat viel Bewegung. Es öffnet sich, zieht sich zurück, dann gibt es gewissermaßen einen Strudel in der Mitte, der sich wiederholt und dann wieder zusammenbricht. Von Anfang an mochte ich die Idee, mit drei plus drei Tänzer·innen zu arbeiten, was ich zuvor nie getan hatte. Das Tanzvokabular ist sehr Lucinda Childs: Der Puls der Musik wird in schwebende Bewegungen übersetzt, die gleichzeitig einfach und komplex sind, was Distant Figure zu einem beeindruckenden Gegenstück zu Timeline macht. Hildur Guðnadóttirs Musik besteht aus extrem angespannten, wummernden Cello-Strichen, wobei die Musik keine Pulse bietet.
Ja, und es gibt Pausen zwischen den Klängen, die sie beim Cello-Spiel erzeugt. Dank der Disziplin, die wir von Merce Cunningham gelernt haben, können die Tänzer·innen einen pulsierenden Rhythmus beibehalten, sowohl individuell als auch kollektiv, was sehr anspruchsvoll ist. Sie zählen ständig. Wir haben jede Phrase entsprechend der Dauer jedes Abschnitts ausgearbeitet. Aber es ist nie dasselbe; es ist alles wie ein Puzzle mit unterschiedlichen Längen und verschiedenen Zeiten. Es ist faszinierend, wie gut sich die Four New Works in Bezug auf musikalische Bandbreite, Tanzsprache, Inszenierung und geschichtliche Zeiträume ergänzen: Es beginnt mit Bach!
Philip Glass hat immer gesagt: „Wenn du etwas über Harmonie lernen willst, höre Bach.“ Ich habe oft darüber nachgedacht, aber nie etwas mit Bachs Musik choreografiert. Dann hatte ich einen Auftrag der Opéra National de Lyon und arbeitete zuerst an einem Solo zur Klavierfassung von Bachs berühmter Kantate. Aber es wurde nie uraufgeführt — jetzt kommt es als Duett auf die Bühne.
András Siebold im Gespräch mit Lucinda Childs
Video, Bühne, Sound (Geranium): Anri Sala
Klavier: Anton Batagov
Licht-Design: Sergio Pessanha
Kostüme: Nile Baker
Lucinda Childs Dance Company
Eine Produktion des Internationalen Sommerfestival Kampnagel und The Blanket
In Koproduktion mit Berliner Festspiele, Chaillot — Théâtre national de la Danse, Paris, La Bâtie-Festival de Genève
Termine
Sa 9.8.2025, 19:30 | Premiere | Ticket
So 10.8.2025, 19:30 | Ticket
Di 12.8.2025, 19:30 | Ticketund weitere Termine
In einer Fassung von Kirill Serebrennikov
Uraufführung
Nach seinem Titel gefragt, gibt der Autor eine Antwort, die in die Zukunft führt. „Ich liebe den Schnee. Der Schnee bedeckt die Erde und alles wird schön. Da sind die Verwerfungen, all die Widersprüche des Alltags und dann schneit es und die Welt ist schön“, sagt Vladimir Sorokin im Gespräch über seinen Roman, der wie bei Puschkin und Tolstoi den Titel Метель (Schneesturm) trägt und auf den ersten Blick ein Kondensat, ein Intertext der russischen Schneesturmtradition zu sein scheint. „Wenn Sie unterwegs sind und in einen Schneesturm geraten, war es das. Es ist ein schönes Phänomen, aber auch ein schreckliches, schicksalhaftes Ereignis. Meine Erzählung hat in Wahrheit drei Protagonisten: den Arzt, seinen Kutscher und den Schneesturm. Am Ende siegt der dritte.“
Wie die Schönheit des Schnees ist auch die Sprache des 19. Jahrhunderts, in der Sorokin erzählt, eine Täuschung. Der hellsichtige Visionär führt uns mit Referenzraum, Personal und Erzählsound zunächst in die Irre. Die postapokalyptische Odyssee des Arztes Garin, der einen Impfstoff in eine abgelegene Ortschaft bringen will, wo eine mysteriöse Seuche die Bewohner·innen in Zombies verwandelt, spielt in der Zukunft.
Auf einer retrofuturistischen Kutschfahrt durch ein weißes, weites Land — nichts in Sicht außer Schnee — verlieren Leser·innen wie Figuren jedes Gefühl für Entfernung und Zeit. Sie begegnen grotesken Gestalten, Riesen und Zwergen, erleben erotische Eskapaden und drogeninduzierte Halluzinationen. Die sind so schrecklich, dass das einfache Leben wieder lebenswert erscheint. Die Reise verliert ihr Ziel aus dem Blick, die Katastrophe hält den Atem an und die Mission bleibt unerfüllt.
In der finalen Begegnung mit dem Schneesturm kommt die existenzielle Road Novel an ihr Ende. Die bemerkenswerte Schlusspointe des Romans deutet auf etwas Neues, das auf uns zukommt und unsere kollektive Vorstellungskraft überfordert: Der halb erfrorene Doktor und sein toter Kutscher werden ausgerechnet von Chinesen gefunden. Chinesen, die alles Verwertbare einsammeln, um den Ort des Scheiterns dann gleichgültig dem endlos fallenden Schnee zu überlassen. Aber wohin bringen sie ihre Beute? Und was folgt auf das Ende unserer vertrauten Welt?
Nach seiner Inszenierung gefragt, antwortet der Regisseur mit einer fragmentarischen Aufzählung. „Schnee. Kleine Pferde. Eine gläserne Pyramide. Der Weg. Unendlichkeit. Sehnsucht. Sturm. Nichts. Traum. Täuschung. Wind. Riesen. Dunkelheit. Zweifel. Gefrorene Zeit. Ein Fehler. Die verlorene Welt. Zombies. Der Impfstoff. Schicksal. Kampf. Tod. Ein eiskalter Raum. Erlösung?“
Auch in Kirill Serebrennikovs Inszenierung ist der Schneesturm Hauptfigur. Er ist vielstimmig und meist weiblich. Er führt und verführt. Er schimpft, tanzt, singt, schweigt und stellt die letzten Fragen. Er bringt die alles umarmende Kälte. Und den Schlaf, den man nicht schlafen darf. Er führt uns ins Herz der Helligkeit. Whiteout. Der Horizont verschwindet, Erde und Himmel gehen nahtlos ineinander über. Die vertraute Welt, Farben und Formen verschwinden, Referenzpunkte, Kontraste, Konturen lösen sich auf. Man befindet sich inmitten eines vollkommen leeren, unendlich ausgedehnten weißen Raums und verliert das Gleichgewicht.
In diesem Taumel der absoluten Orientierungslosigkeit verortet Kirill Serebrennikov seine Inszenierung. Ein existenzielles Cabaret führt das Publikum in den Kontrollverlust.
Wo ist unten, wo oben?
Wohin soll ich gehen?
Warum überhaupt weitergehen?
Wie wird es enden?
Mit Tod oder Rettung?
Vladimir Sorokin gilt als einer der bedeutendsten russischen Prosaautoren der letzten Jahrzehnte und einer der schärfsten Kritiker des russischen Staates und dessen Krieges gegen die Ukraine. Der international anerkannte Regisseur und ehemalige Künstlerische Leiter des Gogol-Zentrums in Moskau, Kirill Serebrennikov, hat seit dem Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine Russland verlassen und lebt in Deutschland. 2023 gründete er seine Theatergruppe KIRILL & FRIENDS mit Sitz in Berlin.
Regie, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikov
Bühne und Kostüme: Vlad Ogay
Musik: Alexander Manotskov
Choreografie: Evgeny Kulagin
Video-Design: Ilya Shagalov
Licht-Design: Sergej Kuchar
Sound-Design: Viacheslav Kasianov
Künstlerische Produktionsleitung: Alina Aleshchenko
Dramaturgie: Birgit Lengers
Mitarbeit Bühne und Kostüme: Elizaweta Veprinskaja
Besetzung:
August Diehl, Dr. Garin
Filipp Avdeev, Perkhusha
Sonja Beißwenger
Yang Ge
Malika Maminova, Marimba, Vibraphon, Perkussion
Belendjwa Peter
Frol Podlesnyi, Live-Kamera
Mikhail Poliakov, Keyboard
Varvara Shmykova
Claudius Steffens
Eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus und KIRILL & FRIENDS Company
In deutscher Sprache mit englischen Übertiteln
Termine
Sa 16.8.2025, 19:00 | Uraufführung | Ticket
Mo 18.8.2025, 19:00 | Ticket
Mi 20.8.2025, 19:00 | Ticketund weitere Termine
Fr 22.8.2025, 19:00 | Ticket
Sa 23.8.2025, 19:00 | Ticket
So 24.8.2025, 19:00 | Ticket
Di 26.8.2025, 19:00 | Ticket
Dörte Lyssewski, Rezitation
Sergei Dreznin, Klavier
Marianna Kijanowska ist eine ukrainische Dichterin, Essayistin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin, deren Werke ins Englische, Deutsche, Italienische, Schwedische, Polnische, Serbische, Tschechische, Slowakische, Weißrussische und Hebräische übersetzt wurden. In ihrem Gedichtband Babyn Jar. Stimmen , der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, erzählt Kijanowska vom größten Massaker des Holocaust: die Ermordung von mehr als 33.000 Juden — fast der gesamten jüdischen Bevölkerung Kyjiws — an zwei Tagen (29. und 30. September 1941) durch die SS und Polizeispezialeinheiten des Dritten Reichs.
Für Kijanowska bedeutet die Betrachtung der Toten eine wahrhaft physische Erfahrung: Kinder und alte Menschen, Mütter und Teenager schreien, flüstern und stöhnen durch ihre Stimme. „Wenn ich sage: ,Ich bin Rachel‘, dann ist das für mich keine Floskel, sondern wörtlich zu nehmen! Ich fühle mich nicht als Autorin dieser Gedichte; es sind ,Stimmen‘, die ich aufgeschrieben habe.“ Kijanowskas eigene Erfahrungen — 2016 war sie an der Front in der Ostukraine — bewirken eine unglaubliche Authentizität des Buches. Für Kijanowska geht es in Babyn Jar. Stimmen um alle Kriege, in denen Menschen massenhaft sterben.
Eine Reise durch das Universum des genialen Dichters William Shakespeare unternimmt das delian :: quartett diesmal ausgehend von der Musik: Zwei große Streichquartette von geradezu bildhaftem Affekt — das Achte Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch und Mendelssohns Sechstes Streichquartett — bilden die eindrucksvolle Bühne für Shakespeares Wortkunst und treffen auf Protagonist·innen aus sieben bedeutenden Shakespeare-Stücken: Macbeth, König Lear, Richard III., Hamlet, Der Sturm, Was ihr wollt und Wie es euch gefällt . Ihnen leiht Angela Winkler — die spätestens seit Peter Zadeks legendärer Hamlet -Inszenierung des Jahres 1999 mit Shakespeares Werk verbunden wird — ihre unvergleichliche Stimme. Ebenso entwickeln einige der berückenden Shakespeare’schen Sonette im Zusammenklang von Wort und Musik eine ganz besonders poetische Kraft.
Regine Zimmermann
Dominik Dos-Reis
Katja Kolm
Christoph Luser
und andere
Marina Davydova Künstlerische Mitarbeit
1991 brach die Sowjetunion zusammen. 1990 fanden in Baku, der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans, am Rande des Sowjetreichs, Pogrome statt, die zum Exodus und zur Diaspora einer großen Zahl von Armeniern führten. In gewisser Weise begann damit der Zusammenbruch des riesigen Sowjetreichs.
Die Handlung des Stücks erstreckt sich über fast 40 Jahre. Es beginnt Ende der 1980er-Jahre, am Vorabend der schicksalhaften Ereignisse, und endet 2022 mit dem Krieg in der Ukraine. Die Handlung bewegt sich von Baku nach Moskau, dann von Moskau nach Deutschland. Die Geschichte dreht sich im Kreis — und durch diese Kreise der Hölle wandern die Exilant·innen der verschiedenen Zeiten.
Wie Tadeusz Kantor mit seinem „Theater des Todes“ beobachtet die Protagonistin des Stücks Figuren aus ihrer Erinnerung. Anders als bei Kantor handelt es sich jedoch nicht um Gespenster, sondern um reale Personen mit ganz individuellen Sichtweisen auf tragische historische Ereignisse. Obwohl die Autorin in ihrem Text auf persönliche Erfahrungen zurückgreift und dokumentarische Belege verwendet, sind sowohl die Handlung von Land of No Return als auch die Figuren fiktiv.
Das Stück wurde in drei Sprachen übersetzt und vom Residenztheater München in Auftrag gegeben, das die Rechte an der ersten Inszenierung hält.